In seinen einzelnen Beiträgen hat der Mahngang die breite Zustimmung der Bevölkerung zur nationalsozialistischen Politik und die Folgen für deren Opfer nahe gebracht. Dieses Anliegen finde ich richtig. Es wird aber durch den Titel, der über dem ganzen stand, einigermaßen in Frage gestellt. Denn nicht der damals alltägliche Antisemitismus und Rassismus gibt so die Klammer ab für die Darstellung der Einzelereignisse, sondern die allzu selbstgewisse Einsicht: So was kommt von so was. Oder noch krasser formuliert: nicht Misstrauen und Sensibilität gegenüber nationaler und kultureller Tradition, wie sie m. E. die angemessene Art der Geschichtsaufarbeitung wären, gehen von dem Motto aus, sondern Selbstbezüglichkeit: „Die Stadt stand in Flammen" wird zur drohenden Mahnung, bei der die Opfer aus dem Blick geraten. „Das haben wir uns angetan" hätte den gleichen Aussagegehalt. Wohl hat der Mahngang in seiner Ausgestaltung die kollektive Selbstverständlichkeit des Nationalsozialismus in den Fokus gerückt, sie wird aber nicht zersetzt, sondern unkritisch weitergeschleppt, wenn die Täter von damals ins Kollektiv der leidenden Stadtbewohner eingemeindet werden: vor dem Bombenhagel sind alle gleich.

Wenn ich die Wahrnehmung der Vergangenheit entlang dieses Mottos strukturiere, wird jede einzelne antijüdische Aktion - die Boykottkampagnen, die Arisierungen, „Juda verrecke"-Rufe, Deportationen und Vernichtung - auf dieses finale Ereignis hin interpretiert. Erst die Bombardierung der Stadt und das Leid der Deutschen, nicht ihre Verbrechen, sind demnach Anlass zur Besinnung, das wird zumindest suggeriert. Aber gibt es denn keine besseren Gründe als die Opfer, die bei der Zerschlagung des Nationalsozialismus durch die Alliierten umkamen, um zu erkennen, dass man ‚so was' wie massenhafte Verfolgung und Ermordung unter allen Umständen hätte verhindern müssen? Natürlich weiß der AK Sprechende Vergangenheit so gut wie ich, dass es diese Gründe damals gab und heute erst recht gibt. Wenn man die für die Verbrechen des Nationalsozialismus Verantwortlichen (vom Landser über das Bahnpersonal bis hin zum Arisierungs-Gewinnler) nicht als gänzlich fremdgesteuert betrachtet, muss man annehmen, dass sie diese Gründe, also die zivilisatorischen Selbstverständlichkeiten, wissentlich über Bord warfen, weil sie auf den Sieg Hitlers hofften.

Warum der AK, auch wenn ihm jede Täter-Opfer-Verkehrung fern liegt, dennoch zur beanstandeten Parole greift, kann ich vermuten. Das Ziel unseres Netzwerks ist es, die von linker Seite gern gepflegten Grabenkämpfe und Abgrenzungsrituale zu überwinden, eine breit anschlussfähige, generationenübergreifende und kulturell vielfältige Bewegung gegen Rechts zu stärken. Dazu gehört es auch, Kompromisse untereinander zu finden und die Adressaten unserer Aufklärung nicht mit Radikal-Rhetorik zu verprellen, sondern für den Rechtsextremismus zu sensibilisieren und in ihrer Handlungsfähigkeit zu unterstützen. Gehe ich davon aus, dass viele Jenenser und Jenaer gerne in ihrer Stadt leben, dann wird die Warnung ‚Stadt in Flammen' auf Neugier und der Wunsch, den Brand zu verhindern, auf Entgegenkommen stoßen. Trotzdem bin ich gegen das Motto des Mahngangs. Wer tatsächlich bei 1945 zuerst an die deutschen Opfer und nicht an das Ende des Nationalsozialismus denkt, kann persönlich einschneidende Erfahrungen haben, ist ignorant, uninformiert oder einfach nur unsensibel. Solange er kein Neonazi ist, ist er Teil unseres imaginierten Zielpublikums. Vielleicht hat er sogar was gegen Nazis. Dann ist es m. E. an uns, die Diskussion zu suchen und den Widerspruch zwischen einer Ablehnung des Rechtsextremismus und der fehlenden Sensibilität gegenüber dem Nationalsozialismus kritisch auszuarbeiten, aber nicht zugunsten des bloßen Mitmachens und Mitdemonstrierens („Wir müssen mehr werden") problematische Ansichten durch missverständliche Parolen noch zu bestätigen. Denn wenn wir davon ausgehen, dass Rassismus und Rechtsextremismus letztlich keine Angelegenheiten gewalttätiger Jugendlicher sind, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommen, dann müssen wir Ansprüche an eben diese Mitte formulieren. Dazu gehört eine Erinnerungspolitik, die ausschließt, dass jemals umgedeutet oder entwichtigt wird, was die Deutschen im Nationalsozialismus taten. Wir brauchen einer wache Stadtkultur, die selbstmisstrauisch ist und neben Schiller und Hegel die Verbrechen nicht nur von NSDAP-Aktivisten, sondern von ‚ganz gewöhnlichen Deutschen' in ihr Selbstbild integrieren kann. Wenn Rassismus ‚gelernt' ist, dann lässt er sich auch aktiv ‚verlernen'. Davon ist keiner ausgenommen, das macht immer wieder Arbeit und Mühe. Niemand hat gesagt, dass es einfach ist, nicht rassistisch zu sein.

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