Tag in Jena 1945

(Auszug aus der Erzählung von Ricarda Huch, zitiert aus: Volker Wahl: Ricarda Huch, Jahre in Jena, Schriftenreihe des Stadtmuseums Jena 31, 1982, S. 83-85)

 

Der 14. März 1945 war der erste Frühlingstag des Jahres. Etwa um 3 Uhr nachmittags kam Fliegeralarm, und da unser Häuschen nicht unterkellert ist, gingen wir, wie wir es immer taten, seit Jena angegriffen wurde, zu unserer Freundin, Frau von Haller, deren Haus wir in wenigen Minuten erreichen können. Dort saßen wir ein Weilchen im Keller, dann, als das Fliegergeräusch nachließ, begaben wir uns in den Garten. Die Luft war milde, zwischen den welken Blättern drängten sich Schneeglöckchen ans Licht, es roch nach Frühling ...

Dieser Keller, der uns eine einigermaßen sicherere Zuflucht bedeutet hatte als der weiträumige Keller eines herrschaftlichen Hauses, war gar kein richtiger Keller, wenn auch von der Vorderseite des Hauses aus eine ansehnliche Treppe zu ihm hinunterführte. Das hängt mit der hügeligen Boden­beschaffenheit dieser Gegend zusammen: die Stadt liegt wesentlich tiefer als die Außenviertel. Wie merkwürdig, daß mir der fragwürdige Charakter des Hallerschen Kellers erst jetzt aufging. Wir hätten, was die Sicherheit anbelangt, ebensogut oder ebensoschlecht in unserem teilweise unter­erdigen Häuschen bleiben können; aber zu Hause waren wir unter uns, bei Frau von Haller war immer ein Häufchen Menschen versammelt ...

Früher waren die großen Angriffe bei Nacht, Anfang 1945, als es keine Abwehr mehr gab, fanden sie am Tage statt. Wir hatten schon mehrere schaudernd erlebt, als am 19. März jener furchtbare hereinbrach, der die Innenstadt Jenas vollständig zerstörte. Er kam nicht überraschend, denn man hatte einige Tage vorher feindliche Flieger beobachtet, die fotographierten, und man wußte, was bevorstand...

Als um 11 Uhr der Voralarm kam, machten wir uns zusammen auf den Weg, meine Tochter, mein Enkel und ich. Mein Enkel gehörte als Sanitäter mit dem Titel Rottwachtmeister zu der Hilfspolizei, die bei Fliegerangriffen etwaigen Verletzten die erste Hilfe zu leisten hatte, und er mußte bei dem Alarm, nachts wie am Tage, sich bei der Polizeistation einfinden, der er zugeord­net war. Er war damals 15 Jahre alt, fast noch ein Kind ... Seine Station, ein großes Schulhaus, liegt unterhalb unserer Wohnung, etwa 5 Minuten entfernt ...

Ich dachte, es sei im Grunde einerlei, ob die Bombe unterm Dach oder im Keller treffe, aber das sagte ich nicht. Das dumpfe Rauschen der Todesmaschinen jagte ununterbrochen über uns hin, es waren offenbar sehr viele, und sie flogen sehr tief....

Das Fliegergeräusch wurde immer lauter, immer drohender. Das Gespräch verstummte; .... Dann kam etwas Entsetzliches, Unbeschreibliches; ein langgezogenes zischendes Pfeifen. - Das ist das Zeichen: im nächsten Augenblick werden wir tot oder zerfleischt und doch noch lebend sein. Die rasselnde Schlange stürzt sich auf ihr gelähmtes Opfer, um es in ihrer ekelhaften Umarmung zu erdrücken. Ein Krachen wie Weltuntergang, - das war ein sogenannter Bombenteppich, keine einzelne Bombe. Das elektrische Licht ging aus, es wurde dunkel; stillschweigend wurde eine mitgebrachte Kerze entzündet. Wenn man den Krach hört, ist man gerettet, aber nur für einen Augenblick; das mör­derische Rasseln geht weiter. Wir sind im Rachen des Todes, da ist kein Entrinnen. Es wird lauter und lauter, kommt näher und näher - wieder das mordlustige Pfeifen und dann der tödliche Krach. Hat es uns diesmal nicht getroffen, so trifft es das nächste Mal um so sicherer; es scheint gerade auf unser Haus zu zielen ...

Wer­den wir uns da hindurchzwängen können, wenn wir etwa verschüttet würden? In einem anderen Teil des Kellers wären größere Fenster, sagt Frau von Haller; übrigens sind Leitern, Beile und Hacken da ...

 Wenn nur das fürchterliche, an den Nerven zerrende Getöse der Flieger eine Minute, einen Augenblick aufhörte! Endlich, endlich wird es schwächer, hört es ganz auf. Sollte es vorüber sein?

Das Ende dieses Satzes nahmen wir nicht mehr deutlich auf, denn eine neue Fliegerstaffel näherte sich, das grausame Spiel begann von Neuem. Wir waren schon fast zwei Stunden lang im Keller, und noch eine Stunde lang ging es so weiter. Unwillkürlich duckten wir uns tief, wenn das Pfeifen kam; am liebsten hätten wir uns auf den Boden geworfen und laut geschrien. ,,Hört es gar nicht auf?" fragte meine Tochter mit einer seltsam kleinen Stimme. ,,Doch einmal wird es aufhören", sagte Frau von Haller und versuchte, einen zuversichtlichen Klang in die Worte zu legen. Ich sah sie an: Ihr Gesicht schien mir kreideweiß und sonderbar verändert. War eine Ohnmacht oder ein Weinkrampf im Anzuge? Nein, sie blieb ganz ruhig. ...

,,Ich kann es nicht länger aushalten", sagte meine Tochter. Ich dachte an die vergangene Zeit, als sie klein war und sich vor dem Gewitter fürchtete. Wie lange, wie unendlich lange war das her; und wie glücklich waren wir damals! Wie herrlich war das himmlische Donnerrollen gegen das mordlustige Brüllen der Maschinen! Laß mich in die Hände des Herrn fallen, sagte König David, ich will nicht in die Hände der Menschen fallen. Sie war wie­der mein kleines Kind und fürchtete sich und ich konnte ihr nicht helfen. War ich denn ganz aus­geliefert an diese unwürdige, entnervende, entmenschende Angst? Ich bin alt, dachte ich, ich müßte ein Gebet sprechen oder etwas Erhebendes sagen; aber mir fiel nichts ein, was mir natürlich und angemessen vorgekommen wäre ...

Da kam unverhofft die Entwarnung. Wir verabschiedeten uns und gingen nach Hause. Hatten wir denn noch ein Haus? Ja, da stand es, wenn es auch stark gewackelt hatte, denn die Fensterscheiben waren zerbrochen und Kalk war von den Wänden gefallen, es hatte tapfer ausgehalten und empfing uns mit vertrauter Geborgenheit. Es war wie sonst, nur daß mir alles weit weg zu sein schien und eine feierliche Unwirklichkeit hatte.

Mein Enkel kam erst nach zehn. Seine Station war getroffen, aber er lebte. Die Stadt stand in Flammen.

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